Die Ursprünge
Der Gildegedanke
Es besteht seit jeher ein Interesse des Menschen nicht allein zu stehen, wenn er sich in Gefahr glaubt. Dann sucht der Mensch Beistand. Mit Hilfe und der Unterstützung anderer Menschen, die seine Not verstehen, fühlt sich der Einzelne sicherer. Die Gruppe gibt ihm Schutz, er vertraut sich ihr an, er verlässt sich auf die Gruppe. Die Gefahr selbst kann dabei vielfältig sein: Gefahr für Gesundheit und Leben, Hab und Gut aber auch Willkür. Der Zusammenschluss von Gleichgesinnten für bestimmte schwierige Lebenssituationen liegt also nahe. Genau das ist Grundgedanke der Gilde.
Das Wort Gilde steht seit dem frühen Mittelalter für einen freiwilligen Zusammenschluss von Menschen mit gleichen Interessen in ähnlicher Lebenssituation. Menschen, die etwas gemeinsam haben und dieses verteidigen wollen. Ihr gemeinsames Ziel dabei ist: Gegenseitige Hilfe und Beistand in der Not. „Einer für alle, alle für Einen“, der Kernsatz der Solidarität. Wichtig hierbei war die Freiwilligkeit, keiner wurde gezwungen mitzumachen. Das Wort Gilde umfasst also die Begriffe: Notsituation, Gegenseitigkeit, Hilfe, Zusammengehörigkeit und Freiwilligkeit.
Die Schutzgilden
Die Wurzeln der Gilden liegen in England im 9. Jahrhundert. Es waren reine Schutzgilden. Menschen schlossen sich erstmals zusammen, um sich in persönlicher Notsituation gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Per Eid sicherte man sich gegenseitig Schutz und Unterstützung zu, in weltlichen wie geistlichen Dingen, in Rechtsangelegenheiten und vor Gerichten. Gilden boten ihren Mitgliedern Schutz und Hilfe an, aber auch Entschädigung bei Schaden in Form von Geld oder dinglicher Unterstützung – wie auch Zeugenhilfe und Eideshilfe vor Gericht. Das ging bis hin zur materiellen Hilfe bei Strafe.
Das Fehlen eines klar strukturierten Staates förderte den Gildegedanken. Das Leben in England spielte sich in den Städten ab. Vorwiegend dort wurden Gilden gegründet. Der Hof des Königs war zu weit weg, um schnell Hilfe zu bekommen. Zu viel Zeit verging, bis etwas passierte. Auf den Staat konnte der Einzelne deshalb nicht zählen, von daher war Selbsthilfe notwendig – aktiv, dinglich und sofort. Das erfüllten erstmals die Schutzgilden. Sie organisierten sich selbst anhand der Bedürfnisse, die die Menschen selbst am besten einschätzen konnten.
Je weniger Staat, desto mehr entwickelten sich Gilden. Rechtlicher Rat, Rechtsschutz und Haftungsschutz, materielle Beihilfe bei Strafe, Gemeinsinn war Grundpfeiler dieses Zusammenhalts.
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Im Rechtssystem Englands nahmen Gilden einen ganz festen Platz ein. Es ist naheliegend, dass Mitglieder einer solchen Gemeinschaft aus gleichen sozialen Schichten, mit gleichen grundsätzlichen Wertvorstellungen und in ähnlicher wirtschaftlicher Situation waren. Es ergibt keinen Sinn, wenn jemand dabei ist, der auf völlig anderer Lebensebene ist und Hilfe nicht erbringen kann oder will. Dadurch blieben die gesellschaftlichen Schichten der Städte weitgehend unter sich. Das waren die Besitzenden, die Oberschicht in wirtschaftlicher Hinsicht, Verantwortliche, die auch häufig das Gemeinwohl leiteten. Die Grenze zur Politik war fließend. Die Gilden waren oft auch an politischen Entscheidung beteiligt. Sie hatten große politische und wirtschaftliche Macht.
Dem englischen Königshaus kam das Gildewesen entgegen, weil dadurch die Verwaltung in den Städten ziemlich von allein lief. Die Gründung neuer Gilden wurde deshalb gefördert.
Von England breitete sich der Gildegedanke im 11. Jahrhundert über Norwegen und Dänemark bis nach Schleswig aus. König Knut der Große war Herrscher des nordischen Großreichs. Überall wurden Schutzgilden gegründet über die Grenzen Schleswig hinweg bis hin nach Holstein an die Grenze des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Darüber hinaus allerdings nicht. Die Schutzgilden orientierte sich an englischen Vorbildern. Gerichts- und Zeugenhilfen waren ihre Schwerpunkte. Durch die Hilfe der Gilde im Falle einer Anklage von der Schuld freizukommen oder sich durch Geld von der Schuld zu lösen, war Sinn und Zweck.
Im Gegensatz zu den englischen Vorbildern suchten sie die Nähe des dänischen Königshauses und wurden oft auch königliche Gilde genannt. Das machte die Gilden so beliebt. Da viele zur oberen Führungsschicht gehörende Menschen Gildemitglieder waren, war der Einfluss der Gilden auf den Staat und das Gerichtswesen groß.
Daneben förderte diese Zweckgemeinschaft auch Gemeinsinn, ein Wir-Gefühl, das alle verband. So war das Nebeneinander von gegenseitiger Hilfe und Gemeinschaft eine wichtige Voraussetzung für den Bestand der Schutzgilden. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das über Jahrhunderte erhalten bleiben sollte.
Im 15. Jahrhundert hatten die Gilden als Schutzgilden ihre größte Zeit. Sie boten ihren Mitgliedern Schutz, Hilfe im Unglück und Beistand in rechtlichen Dingen. Durch gegenseitigen Eid auf Hilfe waren Gildemitglieder abgesichert bei Widrigkeiten des Lebens. Ihr Einfluss in der Kommune war umso größer, je weniger Staat vorhanden war. Sie hatten politische Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten im Gemeinwesen, weil sie eine Einheit waren. Der Gemeinsinn war der Grundpfeiler dieses Zusammenhalts.
Die Schutzgilden zur Zeit der Reformation
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Das 16. Jahrhundert war in Europa das Jahrhundert des Wandels. Die Zeit der Reformation war der Eintritt in die Neuzeit. Die Reformation brachte geistige, politische und wirtschaftliche Veränderungen. Die Zentralisierung des Staates setzte ein. Der lange Arm der Landesfürsten reichte bis in die Gemeinden. Es wurde von oben nach unten durchregiert. Die überall in Europa zunehmende absolutistische Herrschaftsform war den Schutzgilden nicht dienlich. Eine starke, historisch gewachsene selbstbewussten Oberschicht in den Kommunen war gar nicht so sehr gewünscht. Sie hätte den Landesfürsten gefährlich werden können. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die gedruckte Schriftlichkeit nach Erfindung des Buchdrucks. Gesetze konnten schnell kodifiziert und verbreitet werden. Eine vereinheitlichte Rechtsgrundlage auf Basis des römischen Rechts umfasste bald alle Lebensbereiche. Allerdings konnte auch kritisches Wissen verbreitet werden. Das wiederum war natürlich dem Herrscherhaus nicht genehm und zog weitere Gesetzgebung nach sich.
So wurden langsam die politischen Stände und das Patriziat aus der Verwaltung zurückgedrängt. Das traf auch die Gilden. Für sie war kein Platz mehr.
Die Reformation brachte für die Herzogtümer Schleswig und Holstein große Veränderungen im landwirtschaftlichen Bereich. Denn es wurden die Klöster aufgelöst, deren Besitz ging an die Landesherren. Im Jahr 1525 wurde per Gesetz das grundherrschaftliche System in das gutswirtschaftliche System umgewandelt. Hochadel, Klöster, Fürstbistümer verloren ihr Land und an ihre Stelle trat Großgrundbesitz in Form von gutsherrschaftlichen Eigenwirtschaften.
Für die Herzogtümer bedeutete das den Beginn der adligen und ritterschaftlichen Güter, die das Land prägten und die noch heute – besonders im Osten des Landes – ihre Spuren hinterlassen haben oder noch heute vorhanden sind. Gutsherren, also Großbauern standen – rein finanziell und wirtschaftlich betrachtet – den niederen Adligen in nichts nach. Der Name Rantzau zum Beispiel ist dort in Chroniken oder Grundbüchern häufig verzeichnet. Der ehemalige Stammsitz derer von Rantzau, das „Schloss Rantzau“ existiert heute noch – in der Nähe von Plön.
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Um den zentralen Hof eines Gutsherrn herum siedelten sich die von ihm abhängigen Leibeigenen mit Familien – die Hufner. Das waren nicht solche Leibeigenen, wie wir es aus dem Altertum kennen, sondern sie waren Menschen, denen vom Gutsherrn Land zur eigenen Bewirtschaftung überlassen wurde. Daran hatten sie widerrufliches Besitzrecht. Die Hufner konnten selbständig wirtschaften, waren Unternehmer und konnten es zu einem bescheidenen Wohlstand bringen. Sie waren aber dem Gutsherrn dienstverpflichtet und mussten ihm Frondienste leisten. Das waren weniger Geld oder Naturalabgaben, wie Teile der Ernte, sondern sogenannte Rossfron oder Spanndienste. Die Hufner selbst – oder ihre Knechte – mussten auf dem Gutshof landwirtschaftliche Arbeiten wie Pflügen und Eggen für den Gutsherrn erbringen. Neben dem Recht auf Frondienste durch ihre Leibeigenen hatten die Gutsherren ihrerseits aber auch Pflichten. Die bestanden im Wesentlichen im Schutz ihrer Leibeigenen gegenüber Gefahren von außen. Das war aber die ursprüngliche Aufgabe der Schutzgilden. Denen war damit die Grundlage entzogen.
Das alles drängte Bedeutung und Einfluss der Schutzgilden zurück. Viele lösten sich auf oder beschränkten sich als sogenannte Elendengilden auf die Hilfe für Kranke, Arme und heimatlose umherziehende Tagelöhner. Die Zeit der Schutzgilden war im 16. Jahrhundert definitiv zu Ende.
Die Entstehung von Brand- und Totengilden in Schleswig-Holstein
Für die Gilden gab es neue Aufgaben: die gegenseitige Unterstützung und Hilfe bei anderen Widrigkeiten des Lebens wie Feuer, Unglück, Krankheit und Tod.
Die ersten Gilden wurden gegründet, die nur die Brandbedrohung zu ihrer Bestimmung machten. Gegenseitige Hilfe bei Brand und den damit einhergehenden Schäden an Mensch und Ding. Zuerst an der Westküste in den Elb-Marschen, Krempermarsch, Eiderstedt. Da entstanden die ersten Brandgilden. Die Notwendigkeit ist einsehbar. Wo große zentrale Häuser für Ernte, Stallungen und Wohnraum dicht beieinanderstehen, kann sich Feuer leicht ausbreitend. Die Gefahr ist groß. Die Existenz und das Leben vieler Familien hängt daran.
Brandgilden und Totengilden waren die Verbreitetsten. Aber auch als Armengilden, Knochenbruch-, Pferde-, Schweine-, Brunnengilden bekamen die Schutzgilden neue Aufgaben. Es gab vieles, wo man die Hilfe der Gemeinschaft brauchen konnte. Man konnte auch in mehreren Gilden Mitglied sein, wenn die verschiedenen Risiken in unterschiedlichen Gilden abgesichert werden sollten. Deutlich erkennt man die Grundlage für die sich erst viel später entwickelnden Versicherungsgesellschaften.
Von Westen breiteten sich Brandgilden über das ganze Land aus. Gutsherren, verantwortlich für den Schutz und die Fürsorge ihrer Leibeigenen, förderten die Bildung der Brandgilden. Gutsherren waren oft gleichzeitig Amtmänner oder auch Großgrundbesitzer und schon deshalb interessiert am Schutz ihres Eigentums. Die Brandgilden passten also genau zu den Interessen der Obrigkeit.
Auch die Landesfürsten wurden durch die Gründung von Brandgilden von ihrer Fürsorgepflicht und ihrem Schutz entbunden. Sie nahmen deshalb regen Anteil an Brandgilden und nahmen Einfluss, wo sie konnten. Sie zeigten Nähe und nahmen für sich das Recht in Anspruch, die Gründung einer Brandgilde zu erlauben, zu „confirmieren“. Dafür stifteten sie die Gildefahne und häufig ein goldenes Schild, ein Wappen. Der Landesfürst gab so seine Zustimmung, seinen Segen, und sicherte sich damit die Loyalität seiner Bürger. Niemals hätten die Gilden gewagt, sich gegen den Landesherrn zu erheben.
Es war festgeschrieben, wie eine Hilfe im Einzelfall zu sein hat. Ob es ein fester Geldbetrag oder eine tätige Hilfe von soundsoviel Tageseinsätzen zu sein hat. Es wurde zum Beispiel festgelegt, ob nach Brandschaden der Ernteverlust in Form von Getreidelieferung auszugleichen sei oder besser durch Lieferung der Baumaterialien für ein neues Haus. Es wurde festgelegt, wie im Todesfall zu verfahren sei, wie das Grabgeleit, die Kosten der Beerdigung, die Versorgung der Hinterbliebenen oder Weiterbeschäftigung der Arbeitskräfte zu handhaben sei. Der Ablauf bei einem Unglücksfall – gleich welcher Art – wurde bis ins Kleinste vorher festgelegt. Dieses gegenseitige Hilfeversprechen war formuliert und dokumentiert in der Gilderolle, eine der wenigen schriftlichen Niederlegungen in der damaligen Zeit. Die Gilderolle wurde vom Landesherrn confirmiert, gleichsam als staatlicher Akt. Sie war die Legitimation.
Brandgilden waren überaus starke Gemeinschaften. Gegenseitigkeit, Einigkeit und Verlässlichkeit, das waren ihre Grundpfeiler. Jeder gibt dem anderen die Unterstützung, die er selbst auch vom Anderen erwartet. Das Prinzip der Gegenseitigkeit. Jeder wusste, woran er war und konnte sich auf seine Gildebrüder verlassen.
Diese Zweckgemeinschaft für Notsituationen förderte daneben aber auch Gemeinsinn und Geselligkeit. Ein Wir-Gefühl, das alle verband. So war das Nebeneinander von gegenseitiger Hilfe und Geselligkeit eine wichtige Voraussetzung für den sicheren Bestand dieser Gemeinschaft. Es ist eben leichter einander zu helfen, wenn man sich gut gesonnen ist und auch mal miteinander feiert.